Tanju Tügel kommt 1977 als Student aus Istanbul nach Köln. Er ist politisch engagiert und Mitglied der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP). Er möchte in der DDR studieren und bewirbt sich mit Hilfe der Partei um einen Platz an der Hochschule für Ökonomie. 1981 beginnt er sein Studium in Berlin.

Von Istanbul nach Köln

Tanju Tügel wurde in İskenderun geboren und wächst in Istanbul auf, wo seine Eltern einen Buch- und Schreibwarenladen betreiben. Er besucht in Istanbul das Istanbuler Gymnasium, das auch als deutsche Auslandsschule betrieben wird. Der Schulabschluss an dieser Schule erlaubt die Immatrikulation an einer deutschen Universität. Viele Schüler:innen gehen für einen Studium nach Deutschland.

Tanju beginnt sein Studium zunächst in der Türkei. Die siebziger Jahre dort sind geprägt von politischer Instabilität und massiven, auch gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen. Die Universitäten sind „wegen der Studentenrevolte zeitweilig geschlossen“, wie Tanju erzählt. Tanju Tügel ist politisch in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) organisiert, ebenso wie sein Schulfreund Selçuk Özgün. Selçuk geht zum Studieren nach Köln, Tanju folgt ihm zum Wintersemester 1977.

 

Von Köln nach Ostberlin

Selçuk und Tanju sind zwar an der Universität eingeschrieben, studieren aber kaum. Stattdessen engagieren sie sich in der Förderation der Arbeitervereine der Türkei in der BRD (FIDEF). Sie planen Solidaritätsaktionen für streikende Arbeiter:innen in der Türkei, organisieren Demonstrationen und Informationsveranstaltungen und versuchen die Genoss:innen in der Türkei zu unterstützen. Als Mitglieder der TKP werden sie zu Delegationsreisen in die DDR eingeladen. Sie sind überzeugt, dass die DDR und die Sowjetunion auf dem richtigen Weg zum Kommunismus sind. Hier wollen sie Marxismus von Grund auf lernen. Die Partei schickt Selçuk zum Studium der marxistischen politischen Ökonomie in die DDR, nach Berlin. Tanju folgt ihm im September 1981 nach.

Mein Jugendtraum war es wirklich, Marx und Engels in ihrer Muttersprache zu lesen und zu studieren.

Tanju Tügel, Berlin 2022

Tanju Tügel erzählt vom Studieren an der Hochschule für Ökonomie und von ersten politischen Zweifeln.

Studentenleben

Das Studium macht Tanju Tügel Spaß, und er ist darin erfolgreich. Er genießt die relativ offene Atmosphäre an der Hochschule mit vielen internationalen Studierenden. Er hätte auch die Erlaubnis, nach Westberlin zu fahren, aber aus Loyalität zu seinen Kommiliton:innen macht er davon keinen Gebrauch. Tanju wird in den Vorstand des Internationalen Studentenkomitees der Hochschule gewählt. Hier lernt er seine spätere Frau kennen. Bei ihrer Familie in Leipzig verbringen die beiden häufig die Ferien und Wochenenden. Tanju fühlt sich in der DDR und in der Familie willkommen.

Tanju Tügel über unkompliziertes Familienleben und Schwierigkeiten vor der Eheschließung.

Kind und Kegel

1984 wird die gemeinsame Tochter Nelli geboren. Drei Jahre später entschließt sich das Paar zu heiraten. Sowohl die DDR-Behörden als auch die TKP-Leitung sind nicht begeistert. Tanju sollte ausgebildet werden, um die Parteistrukturen in der Türkei aufzubauen. Nun sieht es so aus, als wolle er in der DDR bleiben. Seiner Frau wird unterstellt, sie wolle die DDR verlassen und dies sei der eigentliche Grund für eine Ehe. Nach einigem Hin und Her werden sie getraut, und wenig später kommt das zweite Kind zur Welt.

Ich denke über meine eigene Biographie und politische Tätigkeit immer wieder nach, weil, letztlich ist ja alles zusammengebrochen, woran ich geglaubt habe.

Tanju Tügel, Berlin 2022

Politischer Umbruch

Tanju Tügel beendet sein Studium 1986 und arbeitet an seiner Dissertation. In der Sowjetunion kündigt sich die politische Wende an. Mit Michail Gorbatschows Reformen verändern sich auch die politischen Diskussionen in der DDR. 1988 verhindert die SED-Führung die Auslieferung der beliebten sowjetischen Zeitschrift Sputnik. „Da haben wir gesagt, das ist das Ende. Die DDR verbietet irgendetwas aus der Sowjetunion. Also, das war schon so ein Zeichen“, erinnert sich Tanju.

Im Juni 1989 verteidigt Tanju Tügel seine Dissertation und erhält den Doktortitel. Das Land ist im Umbruch. An den Demonstrationen beteiligt sich Tanju nicht. Mit dem Ende der DDR hat er gerechnet, aber nicht damit, dass es so schnell geht. Nach der Maueröffnung organisiert sich Tanju Tügel in der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). 1991 wird er in den Bundesvorstand gewählt und 1992 der erste türkeistämmige Bezirksstadtrat in Berlin. Er arbeitet bis zu seinem Ruhestand für die PDS, später für die Partei Die Linke.

Tanju Tügel lebt heute als Rentner in Berlin.

Credits:
Das Interview führte Julia Oelkers 2022 in Berlin.
Text: Julia Oelkers
Recherche und Rechercheprotokoll der Fotos: Julia Oelkers
Konzept Videoschnitt: Julia Oelkers