Vũ Thanh Điệp kommt im September 1987 nach Werdau, in die sächsische Textilindustrie. Zu diesem Zeitpunkt arbeiten bereits viele vietnamesische Vertragsarbeiter:innen in den verschiedenen Textil- und Bekleidungsbetrieben der Region.

In der Textilindustrie

Vũ Thanh Điệp hat keine genaue Vorstellung, was sie in der DDR erwartet. Sie weiß, dass Arbeitskräfte gesucht werden. Nach dem Lesen des Arbeitsvertrages ist sie zuversichtlich, dass sie die Arbeit schon schaffen wird. Schließlich ist sie jung. Vor der Abreise in Vietnam bekommen die zukünftigen Vertragsarbeiter:innen einen Koffer voller Kleidungsstücke. Vom Flughafen Schönefeld geht es mit dem Bus nach Werdau. Bei der Ankunft bekommen sie einen weiteren Koffer mit Kleidern. Alle erhalten vom Betrieb die gleiche rote Winterjacke. Die Frauen werden in einem Wohnheim in der Kleinstadt untergebracht, ihr Arbeitsplatz ist eine Stunde Busfahrt entfernt in Treuen. Gearbeitet wird im Zweischichtbetrieb. Der Busfahrer weckt die schlafenden Frauen bei der Ankunft.

Erste Fotos

Bald nach der Ankunft werden die ersten Fotos gemacht. Das in Saigon für die Ausreise aufgenommene Passfoto bringt Vũ Thanh Điệp mit in die DDR, ein aktuelles Porträtfoto entsteht bei einer befreundeten Vietnamesin im Wohnheim. Es zeigt Điệp als junge Vertragsarbeiterin in der DDR. Auch Ausflüge in die Stadt Werdau und Spaziergänge im Wald werden auf Fotos festgehalten.

Einsamer Nachmittag

An einem Samstag im Juli 1988, inzwischen ist Vũ Thanh Điệp ein Dreivierteljahr in der DDR, entsteht eine kleine Fotoserie. Ein Bild zeigt sie mit einer Kollegin bei deren Geburtstagsfeier. Zwei weitere Fotos zeigen Điệp alleine mit der Gitarre einer Mitbewohnerin. Das Foto, bei dem sie auf ihrem Bett sitzt, beschriftet sie mit einer Nachricht für ihre Familie: „Hier schlafe ich. Dieses Foto ist an einem Wochenende entstanden, an dem mir die Wärme von euch, meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern, fehlte. Einsamer Nachmittag samstags, 30.7.88“. Bei einem späteren Besuch in Hanoi nimmt sie das Foto wieder mit zurück nach Sachsen. Sie befürchtet, in Vietnam würde es wegen der hohen Luftfeuchtigkeit verschimmeln.

... an dem mir die Wärme von euch, meinen Eltern und meinen beiden Geschwistern, fehlte.

Vũ Thanh Điệp an die Eltern, Werdau, 1988

Geburtstag und Tết

Geburtstagspartys und das Tết-Fest sind wichtige Unterbrechungen des von Arbeit geprägten Alltags der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen. Laut bilateralem Abkommen zwischen Vietnam und der DDR bekommen die Vertagsarbeiter:innen zu den Tết-Feierlichkeiten einen Tag bezahlten Urlaub. Vũ Thanh Điệps Betrieb richtet eine Feier aus, es gibt Musik, Auszeichnungen für besonders gute Arbeit und Engagement, danach wird getanzt. Điệp hält beim ersten Tết, das sie in der DDR feiert, eine Dankesrede, die vom Dolmetscher im Betrieb übersetzt wird. Sie ist für ihre Kolleg:innen auch Ansprechpartnerin, wenn es um soziale Probleme geht.

 

 

Wende und vorzeitiges Vertragsende

Mit der Wende verändert sich das Leben von Vũ Thanh Điệp und ihren Kolleg:innen radikal. Viele von Điệps Kolleg:innen verlieren ihren Arbeitsplatz, werden von den Betrieben gedrängt, nach Vietnam zurückzukehren. Điệp bleibt, doch ist sie nun auf sich allein gestellt. Sie verabschiedet viele ihrer Freund:innen, begleitet sie zum Flughafen Schönefeld und nimmt traurig Abschied.

 

Jede hat sich für ihr eigenes Leben entschieden und musste es akzeptieren.

Vũ Thanh Điệp, Werdau, 2022

Vũ Thanh Điệp lebt heute in Werdau.

Credits:
Das Interview führte Nguyễn Phương Thanh 2021 in Werdau.
Text: Isabel Enzenbach
Recherche und Rechercheprotokoll der Fotos: Nguyễn Phương Thanh