Nach einem Verkehrsunfall kann Esmireldis Navarro in Kuba nicht weiterstudieren. Zu lange war sie krank. 1978 eröffnet sich ein Ausweg: in die DDR zu gehen. Sie hofft, dort studieren zu können, doch wird sie zur Arbeit in den Leipziger VEB Fahrzeuggetriebewerken ‚Joliot Curie‘ eingeteilt. Nebenbei lernt sie in der Volkshochschule Deutsch.

Aus Guantánamo nach Leipzig

Esmireldis Navarros Eltern sind einfache Leute. Sie haben in der kubanischen Guerilla gekämpft und sich auf dem Land in der Provinz Guantánamo niedergelassen. Ihre Tochter ist früh selbstständig. Selbst sorgt sie dafür, dass sie eine gute Ausbildung erhält. In die DDR kommt sie während ihres Kampfes um Bildung eher zufällig: Nach einem Unfall muss sie ihr Studium in Kuba abbrechen. In der Juventud Rebelde, der Zeitung des kommunistischen Jugendverbands, liest sie von der Möglichkeit, in die DDR zu gehen. Sie hofft, dort weiterstudieren zu können. Ihren Eltern verheimlicht sie zunächst die Bewerbung. Sie lassen sie schließlich ziehen. Als Neunzehnjährige verlässt sie das Land.

Zunächst kommt sie nach Halle in die Chemieindustrie. Sie reagiert mit allergischen Ausschlägen auf die extreme Umweltverschmutzung in der Region. Schon nach drei Wochen wird sie nach Leipzig geschickt. Dort ist die Luft etwas besser. Statt zu studieren oder Mode zu entwerfen, lernt sie in den VEB Fahrzeuggetriebewerken ‚Joliot Curie‘ Industriemaschinen zu bedienen.

Ankunft mit Puppen und Postern

Die deutschen Betreuer:innen empfangen die kubanischen Arbeitsmigrant:innen mit warmen Mänteln für den Winter. Der Empfangsraum ist mit Fotos von Fidel Castro und Bildern der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und Kuba dekoriert. Vier Frauen gibt es in der Gruppe von Esmireldis. Zusammen mit ihnen bezieht sie eine Wohnung im Wohnheim. Poster mit dem berühmten Foto des kubanischen Revolutionshelden Che Guevara, das auch in der DDR populär war, hängen an mehreren Wänden. Esmireldis hat sich ihre Puppen mitgebracht. Der Zusammenhalt der jungen Frauen und vertraute Strukturen helfen dabei, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden.

Nach der Arbeit wird häufig gekocht. Sie genießen es, eine eigene Küche zu haben, laden immer wieder Kolleg:innen und Freund:innen ein.

Ich kam sehr jung nach Deutschland, war fast noch ein Kind. Das erste, was ich mir gekauft habe, war ein Plüschtier.

Esmireldis Navarro, Havanna 2021

Grenzüberschreitungen

Esmireldis Navarro findet auch deutsche Freund:innen. Ein kinderloses Paar richtet ihr in der eigenen Wohnung ein Zimmer ein. Dort verbringt sie einen Teil ihrer Freizeit. Sie fühlt sich als Ersatztochter. Da die Arbeit in der Fabrik nicht das ist, was sie sich vorgestellt hat, besucht sie Deutschkurse in der Volkshochschule und besteht schließlich die Prüfungen bis zum höchsten Niveau.

Gegen Grenzüberschreitungen setzt sie sich zur Wehr. Immer wieder fassen ihr fremde Menschen ins Haar. Auch von vertrauten Menschen kommen rassistische Angriffe. Esmireldis Navarro kämpft um Respekt.

Esmireldis Navarro erzählt von der Freundschaft mit einem deutschen Paar.

Ich denke, die Deutschen sollten sich etwas bewegen, verstehen, dass man nicht so ernst, nicht so streng leben sollte.

Esmireldis Navarro, Havanna 2021

Kultureller Austausch

Die jungen Kubaner:innen sind unternehmungslustig. Sie machen Partys, tanzen, versuchen mit ihrer Energie die deutschen Freund:innen anzustecken. Sie sind ihnen oft zu ernst, zu verkopft. Was für manche Deutschen in der DDR willkommene Exotik ist, ist für Esmireldis Navarro selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Sie will ihre Zeit in der DDR nutzen und genießen. Dabei interessiert sie sich auch für Geschichte und Politik, nimmt an Jugendtreffen teil, an einer Exkursion nach Buchenwald, reist mit einer Delegation nach Kiew. Der Kontakt mit Deutschen ist ihr wichtig. Sie lässt sie an ihrer Kultur teilhaben, versucht sie von den Vorstellungen einer Unterlegenheit Kubas gegenüber der DDR abzubringen.

Esmireldis Navarro zeigt Fotos von ihrem Alltag in der DDR.

Zweite Karriere

Die Arbeit als Industriemechanikerin fordert Esmireldis Navarro heraus. Auch wenn es nicht das ist, was sie machen wollte, strengt sie sich an, um es möglichst gut zu machen. Ihre Deutschkenntnisse verhelfen ihr am Ende der Ausbildung im Betrieb zu einem attraktiven neuen Job: 1982, kurz vor Ende ihres Vertrages in der DDR, bekommt sie Urlaub, um in Kuba an einem Treffen der Unión de Jóvenes Comunistas (Kommunistischer Jugendverband) teilzunehmen. Dort werden ihre Fähigkeiten als Übersetzerin entdeckt. Schließlich übersetzt sie auch für den Staatsrat von Kuba. Sie kehrt in die DDR zurück, diesmal nach Berlin als Übersetzerin. Die Anforderungen an sie sind nun viel höher. Sie hat viel mehr Arbeit und ein luxuriöseres Leben.

Esmireldis Navarro berichtet von ihrer Arbeit und dem Wechsel nach  Berlin.

Berlin war völlig anders, die Arbeit war völlig anders, die Beziehungen waren völlig anders.

Esmireldis Navarro, Havanna 2021

Schwierige Rückkehr

Nach vier Jahren in der DDR reist Esmireldis Navarro voller Freude zurück nach Kuba. Sie hat viel erreicht: eine Ausbildung als Facharbeiterin, die Beschäftigung als Übersetzerin. Zudem hat sie in der DDR einen kubanischen Partner gefunden. Sie freut sich auf ihr Land, auf all das, was sie vermisst hat, bis hin zur Hitze in den überfüllten Bussen. Nach der Ankunft in Kuba stellt sich heraus, dass ihre Zukunft ungewiss ist. Als sie ihr Ausbildungszeugnis abholen möchte, erklärt man ihr, dass sie als Übersetzerin gebraucht wird und wieder ins Ausland gehen soll. Das kommt für sie nicht infrage.

Esmireldis ist verunsichert, denn sie weiß nicht, ob ihre Weigerung dazu führen könnte, dass sie ihr Zeugnis nicht bekommt. Sie muss noch einmal neu anfangen: Über einen Bekannten bekommt sie einen Job als Kassiererin. Die Arbeit entspricht nicht ihrer Qualifikation, aber ist eine Übergangslösung. Als in Kuba Übersetzer:innen für Deutsch fehlen, erinnert man sich an sie. Schließlich dolmetscht sie in Havanna für Delegationen aus der DDR.

Ich denke, schlussendlich bedeutete Deutschland eine totale Veränderung in meinem Leben.

Esmireldis Navarro, Havanna 2021

Esmireldis Navarro lebt als Renterin in Havanna.

Credits:
Das Interview führte Elaine del Valle Cala 2021 in Havanna.
Text: Isabel Enzenbach
Recherche und Rechercheprotokoll der Fotos: Elaine del Valle Cala, Isabel Enzenbach
Konzept Videoschnitt: Isabel Enzenbach