Đặng Thị Thìn reist zweimal in die DDR. 1971 beginnt sie als sehr junge Frau ihr Studium an der TU Dresden. Nach dem Abschluss arbeitet sie zehn Jahre in Vietnam und gründet dort eine Familie. Mitte der Achtziger Jahre kommt sie als Promotionsstudentin wieder, dieses Mal an die Karl-Marx-Universität in Leipzig.

Mit dem Zug von Hanoi nach Berlin

Geboren und aufgewachsen ist Đặng Thị Thìn in einer ländlichen Gegend im Nordosten von Vietnam. 1970, nach Abschluss der zehnten Klasse, reist sie nach Hanoi zur Aufnahmeprüfung für die Universität, die sie mit einem sehr guten Ergebnis absolviert. Sie wird ausgewählt für ein Studium in der DDR.

Nach einem achtmonatigen Deutschkurs in Hanoi geht für die damals Achtzehnjährige die Reise los: mit dem Zug durch China, die Mongolei und die Sowjetunion bis nach Berlin. Thìn war die ganze Zeit reisekrank. An die vierzehntägige Zugfahrt hat sie deshalb nur eine vage Erinnerung. Als die neuen Studierenden endlich in Berlin ankommen, wartet schon die Presse auf sie.

 

Heimweh und eine neue Familie

Đặng Thị Thìn beginnt ihr Studium der Sozialistischen Betriebswirtschaft des Maschinenbaus an der TU Dresden. Vor allem in den ersten Monaten hat sie starkes Heimweh. An der Uni lernt sie Martina kennen. Die beiden jungen Frauen verstehen sich gut. Martina lädt Thìn in ihr Elternhaus ein.

Đặng Thị Thìn erzählt von ihrem engen Verhältnis zu der Familie einer Studienkollegin.

Đặng Thị Thìn besucht Martinas Familie häufig, erfährt viel Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Auf Post aus Vietnam muss sie monatelang warten. Jeden Brief nimmt sie mit in die deutsche Familie und freut sich über deren Anteilnahme und Interesse am Leben ihrer Familie in Vietnam. Oft wird ihr Lieblingsessen gekocht, um sie vom Heimweh abzulenken.

Die Deutschen haben diese Idee von Gerechtigkeit. Auch wenn ich nur ein Blatt Papier gebe, müssen sie einen oder zwei Pfennige dafür zurückgeben.

Đặng Thị Thìn, Hanoi 2021

Đặng Thị Thìn beschreibt ihre Abschlussklasse und erzählt von ihren deutschen Kommiliton:innen.

In ihrer Klasse sind drei weitere vietnamesische Studierende. Mit den naturwissenschaftlichen Fächern kommen alle gut zurecht. Schwierigkeiten bereiten Politische Ökonomie und Marxismus-Leninismus. Hier helfen die deutschen Kommiliton:innen mit Kopien ihrer Mitschriften. Jedes Blatt Kohlepapier muss aber erstattet werden, erinnert sich Thìn.

Im Wohnheim teilt sie ihr Zimmer mit einer deutschen Studentin. Diese kommt aus einer kinderreichen Familie, und ihr Stipendium ist mit 180 Mark knapp bemessen. Die vietnamesischen Studierenden erhalten 100 Mark mehr.  Für besonders gute Leistungen können sie auch noch eine Prämie verdienen. Thìn kauft deshalb mehr Lebensmittel ein und kocht für beide zusammen.

 

Ausreise und Wiederkehr

1975, nach ihrem Studium kehrt, Đặng Thị Thìn zurück nach Vietnam. Sie beginnt dort zu arbeiten, lernt ihren zukünftigen Mann kennen, heiratet und bekommt mit ihm zwei Kinder. Zehn Jahre später kann sie mit einem Promotionsstipendium ein zweites Mal in die DDR reisen. Sie schreibt ihre Doktorarbeit im Fach Volkswirtschaftslehre an der Universität Leipzig. Ihr Thema: „Ermittlung der sozialen Kosten, die zur Bildung des Verkaufspreises von Baustoffen erforderlich sind“.

Wertvolle Unterstützung bei dieser Arbeit erhält sie durch ihren Professor. Er begleitet Thìn, hilft ihr mit zahlreichen Kontakten während der Promotion und lädt sie auch am Wochenende zu Ausflügen mit seiner Familie ein. Durch ihn lernt sie das Land und auch die deutschen Gepflogenheiten besser kennen.

Ihr Stipendium reicht aus für ein Leben in der DDR. Dennoch arbeitet sie am Wochenende in der Landwirtschaft. Mit dem dort verdienten Geld kauft sie Fotopapier, Filme und Kleidung für die Kinder und ihren Mann in Vietnam.

 

 

Die Zeit als junge Studentin bei Martinas Familie beschreibt Đặng Thị Thìn als prägend für ihr ganzes Leben. Sehr eindrücklich erinnert sie sich an Martinas Hochzeit. Aus Vietnam kennt sie so opulente Hochzeitsfeierlichkeiten nicht. Die anderen Gäste sind neugierig auf das vietnamesische Mädchen, sie muss viele Fragen beantworten. Sie selbst ist überrascht über das viele zerbrochene Porzellan, das dem Brautpaar Glück bringen soll. Einige Traditionen hat sie mit nach Vietnam genommen. Zur Adventszeit leuchtet bei ihr zu Hause eine Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge.

Đặng Thị Thìn erinnert sich an ihre erste deutsche Hochzeit und beschreibt den Einfluss, den der Aufenthalt in der DDR auf ihr Leben hatte.

Heute lebt Đặng Thị Thìn als Rentnerin in Hanoi.

Credits:
Das Interview führte Prof. Dr. Phạm Quang Minh 2021 in Hanoi.
Text: Julia Oelkers
Recherche und Rechercheprotokoll der Fotos: Trần Bảo Ngọc Anh
Konzept Videoschnitt: Julia Oelkers