Als Achtzehnjährige kommt Nguyễn Thị Thu Thuỷ 1987 nach Plauen in Sachsen, um in einer Baumwollspinnerei zu arbeiten. Ihre Eltern bitten eine etwas ältere mitausreisende Freundin, auf Thuy zu achten. Sie machen sich Sorgen, schließlich ist  Thuỷ jung und kann auch nicht kochen.

Als Jüngste der Gruppe

Nguyễn Thị Thu Thuỷ lebt sich schnell ein. Anders als viele ältere Kolleg:innen hat sie keine eigene Familie in Vietnam zurückgelassen. Sie genießt vielmehr die Freiheiten, die mit der Distanz von zu Hause verbunden sind. Ihre Freundin Ha kennt sie bereits aus Vietnam. In der Gruppe, die im Wohnheim zusammenlebt, findet sie neue Freund:innen. Mit Phương liest sie heimlich die Briefe der anderen. Thuỷ will ausgehen, etwas erleben.

In der Textilindustrie

Bald nach der Ankunft im Herbst 1987 beginnt Thuỷ im VEB Vereinigte Baumwollspinnereien und Zwirnereien in Plauen zu arbeiten. Da sie relativ groß ist, wird sie in der Produktion der Garnrollen eingesetzt. Ihre Aufgabe ist es, die fertigen Garnrollen herunterzuheben und in Baumwollkisten zu legen. Eine Schicht dauert acht Stunden. Die Arbeit findet sie nicht sonderlich anstrengend.

Viele hatten schon Familie und mussten sie zurücklassen. Sie hatten viel Heimweh.

Nguyen Thu Thin Thuy, Berlin 2022

Kein Markt für Kimonos

In Vietnam rät man Nguyễn Thị Thu Thuỷ, Kimonos mit in die DDR zu nehmen, um sie dort zu verkaufen. Sie nimmt zehn mit, doch findet sie keine Käufer:innen. Schließlich lässt sie sich selbst darin fotografieren. Aus Vietnam haben alle aus ihrer Gruppe einen Koffer mit Kleidung mitbekommen. Bald fangen Thuỷ und ihre vietnamesischen Kolleg:innen an, aus Bettlaken Kleidungsstücke zu nähen, die sie an Deutsche verkaufen oder zusammen mit Nähmaschinen nach Hause schicken.

Freundschaft mit den Kolleg:innen

Nguyễn Thị Thu Thuỷ verbringt mit ihrer besten Freundin Phương und zahlreichen vietnamesischen Kolleg:innen viel Zeit. Sie gehen zusammen aus oder laden Freund:innen aus anderen Betrieben in ihr Wohnheim ein. Viel Zeit wird auch mit Nähen verbracht. Bis heute sind viele der ehemaligen Vertragsarbeiter:innen miteinander in Kontakt, auch wenn sie in verschiedenen Städten Deutschlands leben. Oder sie besuchen einander, wenn sie in Vietnam sind. Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit in der DDR verbindet sie.

Partys im Wohnheim

Viele Fotos werden bei den Partys gemacht. Das erste Weihnachtsfest wird vom Betrieb ausgerichtet. Eine große Party gibt es zu Thuỷs zwanzigstem Geburtstag, weitere zu den Geburtstagen der Kolleg:innen. Auch einige deutsche Kolleg:innen feiern mit ihnen. In Plauen lernt Thuỷ auch ihren späteren Ehemann Hung kennen. Thuỷ, Hung und ihre Kolleg:innen feiern den Jahreswechsel 1988/89 fröhlich.

Wir haben immer direkt aus den Flaschen getrunken.

Nguyen Thu Thin Thuy, Berlin 2022

Mauerfall und Schwangerschaft

1989 ist Nguyễn Thị Thu Thuỷ schwanger. Sie verheimlicht es zunächst, versteckt den wachsenden Bauch. Sie will vermeiden, dass sie wegen der Schwangerschaft vorzeitig nach Vietnam zurückgeschickt wird. Im Frühjahr 1989 ist zudem eine neue Verordnung in Kraft getreten, die es schwangeren Vietnamesinnen ermöglicht, ihre Kinder in der DDR zu bekommen. Zuvor war das verboten. Kurz scheinen für Thuỷdie Probleme gelöst. Doch mit dem Mauerfall ändert sich alles. Die Betriebe kündigen die Arbeitsverträge der Vertragsarbeiter:innen vorzeitig. Die Wende bedeutet für sie vollkommene Unsicherheit: Was wird aus ihren Verträgen, ihrem Anspruch auf einen Platz im Wohnheim, ihrem Aufenthaltsrecht? Mit der Arbeit verlieren sie alle Sicherheiten. Sie sollen möglichst schnell zurück nach Vietnam. Die ersten Vertragsarbeiter:innen werden ohne rechtliche Grundlage noch im Winter 1989 in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt.

Vorzeitige Rückkehr

Thuỷ und Hung heiraten. Die Situation in Deutschland ist nun sehr belastend. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen bilden drei Gruppen: Zuerst sollen diejenigen nach Vietnam zurückgehen, die in Vietnam Kinder haben. Danach die, die dort eine:n Ehepartner:in haben. Die dritte Gruppe, ohne Kinder oder Partner:in in Vietnam, soll am längsten in der DDR bleiben. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen teilen die Unsicherheit mit Vertragsarbeiter:innen aus anderen Ländern. Thuỷ und die in Plauen verbliebenen Vietnames:innen schließen sich mit den Vertragsarbeiter:innen aus Mosambik zusammen. Auch von diesen werden viele noch im Winter 1989/90 vorzeitig abgeschoben. Immer wieder begleitet Thuỷ Freund:innen, die nach Vietnam zurückkehren, zum Flughafen. Thuỷ schafft es zu bleiben. Mit Hung und ihrem Kind zieht sie 1991 nach Frankfurt an der Oder.

Nguyễn Thị Thu Thuỷ verabschiedet 1990 eine Freundin, die nach Vietnam zurückkehrt, am Flughafen Berlin-Schönefeld.

Heute lebt Nguyễn Thị Thu Thuỷ in Berlin.

Credits:
Das Interview führte Nguyễn Phương Thanh 2021 in Berlin
Text: Isabel Enzenbach
Recherche und Rechercheprotokoll der Fotos: Nguyễn Phương Thanh